
Porträt von Bindo Altoviti – Das Jugendmeisterwerk von Raffael Sanzio
Das Porträt von Bindo Altoviti (ca. 1515) von Raffael Sanzio – Öl auf Holz, 59,7 × 43,8 cm. National Gallery of Art, Washington.
Raffaels Porträt von Bindo Altoviti ist eines der faszinierendsten Gemälde der Hochrenaissance – ein Werk, das technische Meisterschaft, psychologische Tiefe und eine kühne kompositorische Originalität vereint. Entstanden um 1515, auf dem Höhepunkt von Raffaels römischer Schaffenszeit, zeigt das Bildnis den jungen florentinischen Bankier Bindo Altoviti in einer ungewöhnlichen, lebendigen Pose: mit dem Rücken leicht zum Betrachter gewandt, der Kopf jedoch zurückgedreht, um direkt in dessen Augen zu blicken. Von Giorgio Vasari als ein Werk von „wunderbarster Schönheit“ gepriesen, hat dieses Porträt Jahrhunderte der Kunstgeschichte, Privatsammlungen und kritische Debatten überdauert, bis es schließlich seinen Platz in der National Gallery of Art in Washington fand. In diesem Beitrag analysieren wir das Werk aus technischer, ikonografischer, historischer und psychologischer Perspektive – eingebettet in Raffaels Gesamtwerk und den Kontext der italienischen Renaissance – um seine Bedeutung und Einzigartigkeit als kunsthistorischen Meilenstein vollständig zu erfassen.
Technische und kompositorische Analyse
Aus formaler Sicht offenbart das Porträt von Bindo Altoviti Raffaels vollendete technische Meisterschaft und seinen stilistischen Forschergeist während der römischen Jahre. Die Komposition ist innovativ: Anstatt das Modell frontal oder im Profil – wie in der traditionellen Porträtmalerei üblich – darzustellen, malt Raffael es von hinten, mit dem Oberkörper nach links gedreht und dem Gesicht, das sich zurück zum Betrachter wendet. Dieses kompositorische Mittel erzeugt einen Eindruck von Bewegung und Spontaneität, fast als wäre die Szene im Moment eingefangen worden, was dem Gemälde Lebendigkeit verleiht. Die Figur beschreibt eine elegante Kurve im Raum, betont durch die Linie der Schulter und des blauen Mantels, der den Rücken hinabgleitet, während das helle Gesicht oben rechts vor einem tiefgrünen Hintergrund hervorsticht. Das Gesamtbild schafft ein feines Gleichgewicht zwischen Dynamik und Harmonie: Der junge Mann scheint sich gerade vollständig drehen zu wollen, bleibt aber in einem schwebenden Moment festgehalten.
Die Farbpalette ist reichhaltig und symbolisch. Der smaragdgrüne, gesättigte und gleichmäßige Hintergrund bildet einen starken Kontrast zur elfenbeinrosigen Hautfarbe des Gesichts und zum goldblonden Haar Bindos. Der schimmernde blaue Mantel und der schwarze Ärmel verleihen der Komposition zusätzliche Farbtiefe: Blau, ein kostbares Pigment aus Lapislazuli, weist auf den hohen gesellschaftlichen Status des Porträtierten hin, während das Schwarz von Ärmel und Mütze das Bild mit einem dunklen Akzent ausgleicht. Raffael beweist hier seine Meisterschaft im Umgang mit Farbe und Licht: Sanftes Licht fällt von links ein, streift das Gesicht und die entblößte Schulter Bindos und verliert sich allmählich in Schatten auf der gegenüberliegenden Seite. Das Ergebnis ist ein feines Hell-Dunkel, das die Gesichtszüge zart modelliert – ohne die dramatischen Kontraste anderer Meister. Das Gesicht erscheint plastisch und lichtdurchflutet, während Hals und Rücken sanft in das dunkle Grün des Hintergrunds übergehen. Diese subtile Tonabstufung, besonders deutlich an Augen und Lippen, erinnert an den Einfluss Leonardo da Vincis, dessen Werke Raffael während seines Florentiner Aufenthalts und darüber hinaus eingehend studierte. Nicht zufällig ist die anmutige, fast androgyn wirkende Pose des jungen Altoviti, zusammen mit dem Licht- und Schattenspiel im Gesicht, untypisch für Raffaels Männerporträts und zeugt vom Wunsch des Künstlers, neue Ausdrucksformen in der Porträtmalerei zu erproben.
Aus zeichnerischer Sicht zeigt das Gemälde Raffaels legendäre Sicherheit und lineare Klarheit.Die Konturen sind zugleich weich und präzise: Das Profil von Gesicht und Hut hebt sich klar vom Hintergrund ab, jedoch ohne Härte – dank gekonnter Übergänge, die die Trennung zwischen Figur und Hintergrund sanft erscheinen lassen.
Die Details sind mit feinem Pinselstrich wiedergegeben: Die langen, leicht gewellten, blonden Haarsträhnen sind mit solcher Sorgfalt gemalt, dass ihre seidige Textur beinahe greifbar wirkt. Die fein geschwungenen Augenbrauen folgen dem Schönheitsideal der Zeit – jene "perfekt gebogenen“, die, wie Waldemar Januszczak ironisch bemerkt, Raffael scheinbar allen seinen Figuren verleiht, ob männlich oder weiblich.
Die hellgrünen Augen Bindos, mandelförmig geschnitten, glänzen mit einem gläsernen Licht, das durch kleine weiße Lichtpunkte im Blick erzeugt wird. Auch die linke Hand, die auf der Brust ruht, ist mit anatomischer Genauigkeit dargestellt: Man erkennt die schlanken Finger und einen goldenen Ring mit grünem Stein auf dem Zeigefinger, dessen Edelstein mit einem leuchtenden Farbauftrag hervorgehoben wird.
Alles an diesem Gemälde offenbart Raffaels herausragende malerische Meisterschaft – die Fähigkeit, die idealisierende Anmut, die er von Perugino übernahm, mit aufmerksamer Naturbeobachtung zu verbinden, gefiltert durch die natürliche Eleganz seiner Linie.
Ikonographie und symbolische Bedeutung
Auch wenn es sich um ein weltliches Porträt handelt und scheinbar keine komplexe Symbolik enthält, vermittelt das Porträt des Bindo Altoviti feine Bedeutungen durch ikonografische Details und bewusst gewählte stilistische Entscheidungen.
Bindo Altoviti ist im Alter von etwa 22 bis 24 Jahren dargestellt, in der Blüte seiner Jugend und Schönheit. Er trägt eine elegante, aber nicht prunkvolle Kleidung: ein weiter, gefütterter blauer Mantel (möglicherweise aus Satin oder Seide), der den oberen Rücken freilegt und sich an den Ärmeln öffnet, wobei am Halsansatz ein Stück seines weißen Hemdes hervorschaut.
Das Ultramarinblau war damals eine extrem kostbare Farbe, traditionell der Jungfrau Maria in der religiösen Kunst vorbehalten – ihr Gebrauch in einem weltlichen Kontext verweist hier auf den Reichtum und hohen sozialen Stand Bindos, der aus einer der bedeutendsten Florentiner Bankiersfamilien stammte.
Zugleich deutet die Wahl einer modernen, aber kultivierten Kleidung auf den gebildeten Geschmack des jungen Mannes hin, der sich eher als raffinierter Edelmann denn als protzender Reicher präsentieren will. Die weiche schwarze Kappe auf seinem Kopf – ein typisches Accessoire für Männer mit Bildung – rahmt die hohe, leuchtende Stirn, ohne das Haar zu verdecken, fast so, als wolle er Anstand mit Eitelkeit verbinden: Bindo zeigt sich als seriöser Geschäftsmann (die dunkle Kappe), ist sich aber auch seines Charmes und seiner Wirkung bewusst (das lange offene Haar).
Die Frisur verdient aus ikonografischer Sicht besondere Beachtung. Bindo trägt sein Haar sehr lang, in weichen, blonden Wellen, die über die Schultern fallen und sich im Nacken in zwei Strähnen teilen. Diese Haartracht, für ein männliches Porträt durchaus ungewöhnlich, betont die androgyne Mehrdeutigkeit seiner Schönheit: Wäre da nicht die männliche Kleidung, könnten das zarte Gesicht und das lange Haar beinahe an eine weibliche Figur erinnern. Es ist möglich, dass Raffael – fasziniert von der Ästhetik der Jugend – Bindos Züge absichtlich idealisierte und seine Männlichkeit zugunsten eines universellen Schönheitsideals abschwächte. Das Ergebnis ist ein Porträt von sinnlicher und ambivalenter Ausstrahlung, in dem die Geschlechtergrenze zugunsten einer von Anmut und Harmonie geprägten Renaissance-Ästhetik verschwimmt. Diese ikonografische Entscheidung, einen Mann in einer Pose und mit einem Ausdruck darzustellen, die traditionell weiblichen Figuren vorbehalten waren (man denke an den sehnsuchtsvollen Blick mancher Madonnen oder Sibyllen), kann als Hommage Raffaels an seinen Freund und Mäzen gelesen werden: Bindo wird nicht nur als gesellschaftliche Persönlichkeit geehrt, sondern auch für seine inneren und äußeren Qualitäten – symbolisiert durch die Schönheit, die das Bild ausstrahlt.
Einen weiteren bedeutungsvollen Aspekt stellt die linke Hand Bindo Altovitis dar, die auf seiner Brust ruht. Diese Geste lässt sich auf verschiedene Weise deuten. Einerseits handelt es sich um eine natürliche Bewegung, beinahe eine Geste der Selbstsammlung, als würde sich der junge Mann den Mantel zurechtrücken oder respektvoll grüßen. Andererseits gilt die Hand auf dem Herzen traditionell als Symbol für Aufrichtigkeit und Loyalität: Bindo könnte hierdurch seine innere Rechtschaffenheit, Ehre und Treue zum Ausdruck bringen – allesamt zentrale Tugenden für einen Bankier und Höfling des 16. Jahrhunderts.
Wahrscheinlich wurde das Porträt zu einem wichtigen Anlass im Leben Bindos in Auftrag gegeben, sehr wahrscheinlich anlässlich seiner Hochzeit mit Fiammetta Soderini1. Der Ring mit einem großen grünen Edelstein (vermutlich ein Smaragd) am Zeigefinger verweist möglicherweise direkt auf dieses eheliche Band oder zumindest auf seinen familiären Status: Auch wenn der Ring traditionell am kleinen Finger getragen wurde, hat Raffael ihn hier gut sichtbar am Zeigefinger positioniert, um so symbolisch auf Verbindung und Wohlstand hinzuweisen (der Smaragd war mit der Göttin Venus und ehelicher Eintracht assoziiert).
In Abwesenheit weiterer ikonografischer Attribute – wie Bücher, Instrumente oder Landschaftshintergründe – sind es gerade diese Details: die Geste der Hand, das Schmuckstück, die Kleidung, die Bindos intellektuelles und moralisches Profil vermitteln.
Historischer Kontext und Einordnung in Raffaels Werk
Um das Porträt des Bindo Altoviti vollständig zu verstehen, ist es unerlässlich, es in den biografischen und künstlerischen Kontext Raffaels sowie in den des italienischen Renaissancezeitalters einzuordnen. Das Gemälde entstand um 1514–1515 in Rom, in einer Phase, in der Raffael – gerade etwas über dreißig Jahre alt – höchstes Ansehen am päpstlichen Hof genoss. Nach dem großen Erfolg der Vatikanischen Stanzen, die er für Papst Julius II. ausgemalt hatte, war er nun unter Papst Leo X. mit prestigeträchtigen Aufgaben betraut, etwa mit den Entwürfen der Wandteppiche für Sankt Peter1.
Raffael befand sich auf dem Höhepunkt seiner Karriere, galt als der einflussreichste und gefragteste Maler Roms. In diesem dynamischen und von Konkurrenz geprägten Umfeld begegnete ihm der junge und vermögende Bindo Altoviti, der aus Florenz nach Rom gekommen war. Bindo, zu dieser Zeit ein etwa zwanzigjähriger Bankier, entstammte einer prominenten florentinischen Familie, die sich im Exil befand (wegen ihrer Opposition gegen die Medici), war jedoch gut in den päpstlichen Machtkreis eingebunden.
Als Kunstliebhaber und Mäzen, befreundet mit Größen wie Michelangelo, Cellini und Giorgio Vasari, verkörperte Bindo das Ideal des gebildeten Renaissance-Menschen, der in der Kunst sowohl ein Mittel zur Selbstdarstellung als auch zur sozialen Etablierung sah.
Ein Porträt bei Raffael in Auftrag zu geben – damals der teuerste und gefeiertste Maler Roms – bedeutete für Bindo Altoviti nicht nur ein Akt persönlicher Eitelkeit, sondern vor allem eine öffentliche Selbstdarstellung seines gesellschaftlichen Rangs: Es hieß, sich der Nachwelt mit Hilfe des Pinsels des „göttlichen Künstlers“ zu verewigen.
Moderne Quellen legen nahe, dass das Gemälde vermutlich anlässlich von Bindos Hochzeit um 1515 in Auftrag gegeben wurde1, als Erinnerung an einen glücklichen und entscheidenden Moment seines Lebens. Raffael, der in jenen Jahren mit bedeutenden öffentlichen und religiösen Großprojekten betraut war, nahm sich dennoch die Zeit, auch die Aufträge einflussreicher Privatpersonen auszuführen: neben Bindo malte er in dieser Phase unter anderem das berühmte Porträt von Baldassarre Castiglione (1514–15) sowie vermutlich auch La Velata (traditionell mit seiner Geliebten identifiziert, um 1516).
Das Porträt von Bindo hebt sich jedoch von diesen Werken ab – vor allem durch die ungewöhnlich lebendige Pose und die intime psychologische Dimension. Während Castiglione mit klassischer Würde und nachdenklichem Blick erscheint, und La Velata von vornehmer Zurückhaltung geprägt ist, wendet sich Bindo dem Betrachter mit einer fast überraschten Spontaneität zu. Sein Blick ist lebendig, seine Lippen tragen ein undeutbares, geheimnisvolles Lächeln.
Diese Unterschiede deuten darauf hin, dass Raffael im Porträtgenre mit weniger formellen Lösungen experimentierte – vielleicht ein Zeichen stilistischer Entwicklung in den letzten Jahren seines Lebens: eine Wendung hin zu größerem Naturalismus und emotionaler Unmittelbarkeit.
Tatsächlich haben einige Kunsthistoriker in diesem Gemälde eine Vorwegnahme manieristischer oder sogar barocker Sensibilitäten erkannt. Die spiralförmige Drehung des Oberkörpers, der betonte Hell-Dunkel-Kontrast sowie die androgyne Erotisierung der Figur finden keine unmittelbaren Parallelen in den Porträts von Raffaels Zeitgenossen, sondern deuten Lösungen an, die erst einige Jahrzehnte später im Werk von Künstlern wie Bronzino (mit seinen raffiniert konstruierten Porträts) oder – noch später – in den chiaroscuro-dramaturgischen Bildnissen Caravaggios zur Reife gelangen.
Natürlich bleibt Raffael ein Künstler der Hochrenaissance, in dessen Werk die Idee der „grazia“ – jener schwerelosen Anmut – weiterhin dominiert. Doch gerade das späte Werk (zu dem dieses Porträt zählt) lässt erkennen, wie der Maler begann, sein Ausdrucksspektrum zu erweitern und neue Wege der Darstellung zu erproben.
Tragischerweise wurde dieser Entwicklungsweg durch den frühen Tod Raffaels im Jahr 1520 im Alter von nur 37 Jahren jäh unterbrochen. Bindo Altoviti, der seinen Freund überlebte, bewahrte sein Andenken: Er gehörte zu jenen, die Raffaels Leichnam im Pantheon die letzte Ehre erwiesen, und musste – wie viele andere – mit dem Verlust eines Genies umgehen, das auf dem Höhepunkt seines Ruhms aus dem Leben gerissen wurde.
Geschichte, Provenienz und kritische Rezeption des Werks
Das Porträt des Bindo Altoviti blickt auf eine ereignisreiche Sammlungsgeschichte zurück, die die wechselvolle Zuschreibung des Gemäldes sowie den sich wandelnden Kunstgeschmack der Jahrhunderte widerspiegelt. Ursprünglich blieb das Bild rund drei Jahrhunderte lang im Besitz der Familie Altoviti. Bindo selbst bewahrte es vermutlich in seinem prächtigen Palast in Rom auf – einem Gebäude in der Nähe der Engelsbrücke, das von Giorgio Vasari ausgestaltet wurde und im 19. Jahrhundert abgerissen wurde.
Nach Bindos Tod im Jahr 1557 ging das Gemälde an seinen Sohn Antonio Altoviti, Erzbischof von Florenz, und blieb danach über Generationen hinweg im Familienbesitz, zwischen Rom und Florenz.
Im 18. Jahrhundert kam es jedoch zu einer kuriosen Wendung: Um 1750 begannen einige Gelehrte und Künstler, die Identität des Dargestellten infrage zu stellen. Sie vermuteten, dass der junge Mann mit den langen Haaren kein anderer als Raffael selbst sei – ein Selbstporträt. Diese Hypothese wurde durch die allgemeine Verehrung für Raffael gestützt: Jede vermeintliche Darstellung des Künstlers war höchst begehrt, und die relativ ambiguen Gesichtszüge der Figur nährten den Zweifel zusätzlich.
Die Annahme gewann so viel Auftrieb, dass selbst die Nachfahren der Altoviti-Familie begannen, an der Identität ihres Vorfahren zu zweifeln. Schließlich entschieden sie sich 1808, das Bild an einen ausländischen Käufer zu veräußern – und zwar zu einem außerordentlich hohen Preis, eben weil es als seltenes Selbstbildnis Raffaels gehandelt wurde.
Im November 1808 wurde das Gemälde durch den Kunsthändler Johann Metzger im Auftrag von Ludwig I. von Bayern erworben, der damals noch Kronprinz war und als großer Kunstsammler galt. Nach seiner Ankunft in München wurde das Bild in die königliche Sammlung aufgenommen und als Selbstbildnis Raffaels ausgestellt. Später fand es seinen Platz in der Alten Pinakothek.
Doch Mitte des 19. Jahrhunderts begannen einige Kunsthistoriker, Zweifel an der Zuschreibung zu äußern: Der verfeinerte, fast androgyn wirkende Jüngling entsprach nicht dem erwarteten Selbstbildnis Raffaels. Mit der wachsenden Skepsis gegenüber der Identität des Dargestellten geriet bald auch die Autorschaft des Meisters selbst ins Wanken.
In kurzer Zeit verlor das einst verehrte Werk seinen Ruf – vom Kultobjekt zur Peinlichkeit. Wie die Kunsthistoriker David Alan Brown und Jane Van Nimmen treffend formulieren:
"Der Fall des Münchner Gemäldes zeigt, wie schnell sich die Anbetung in Verlegenheit oder Verachtung verwandelt, wenn Kultobjekte entzaubert werden. War es weder von Raffael noch sein Abbild, schien das Bild von München keinerlei Wert mehr zu besitzen.“
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und im frühen 20. Jahrhundert wurde das Werk verschiedenen Schülern Raffaels zugeschrieben: Giulio Romano, Gianfrancesco Penni und andere Namen wurden vorgeschlagen, in dem Versuch, eine alternative Autorschaft zu benennen. Infolge dieser Entwicklung stufte die Alte Pinakothek das Porträt als sekundäres Werk ein – ein Werkstattstück ohne direkte Hand des Meisters, das potenziell aus der Sammlung entfernt werden konnte (deaccessionierbar).
Die Gelegenheit zur Abgabe des Gemäldes ergab sich während des nationalsozialistischen Regimes. Im September 1938, unter der Herrschaft Hitlers, tauschte die Alte Pinakothek München das inzwischen als entbehrlich geltende Porträt – aufgrund seiner unsicheren Zuschreibung – mit der Londoner Galerie Agnew’s, im Austausch gegen andere Kunstobjekte.
Bereits im Oktober 1938 gelangte das Gemälde in den Besitz der berühmten Duveen Brothers, renommierte Kunsthändler mit Sitz in Europa und den USA. Höchstwahrscheinlich waren es die Duveen Brothers, die das Werk – dank ihres ausgeprägten Gespürs für den Kunstmarkt – mit Nachdruck erneut Raffael zuschrieben. Sie stützten sich dabei auf historische Quellen, insbesondere auf den Hinweis bei Vasari, der Bindo Altoviti explizit erwähnte – ein entscheidendes Indiz für die eindeutige Identifikation der dargestellten Person.
1940 wurde das Porträt von der Samuel H. Kress Foundation in New York erworben – eine Stiftung, die sich zum Ziel gesetzt hatte, Meisterwerke europäischer Kunst in amerikanische Museen zu bringen. Die Geschichte des Bildes fand ihren Abschluss 1943, als es – nun allgemein als authentisches Werk Raffaels anerkannt – gemeinsam mit anderen Werken der Kress-Sammlung der National Gallery of Art in Washington geschenkt wurde, wo es sich bis heute befindet.
So wurde am Ende eines langen und wechselhaften Weges die ursprüngliche Zuschreibung bestätigt: Das Gemälde stammt tatsächlich von Raffael und zeigt Bindo Altoviti, wie es bereits Vasari berichtet hatte.
Die kritische Rezeption des Porträts war, wie dargestellt, wechselhaft.
Während Giorgio Vasari es in seinen Vite (1550–1568) ausdrücklich erwähnt und lobt – „Für Bindo Altoviti fertigte er dessen Porträt in jungen Jahren an, das als außerordentlich schön gilt“ –, war die Identität des Dargestellten bereits ein Jahrhundert später unklar, und im 19. Jahrhundert wurde auch die Zuschreibung an Raffael stark angezweifelt.
Es war das Verdienst von Kunsthistorikern wie Giovanni Morelli und Bernard Berenson, zahlreiche Werke Raffaels, die in Vergessenheit geraten oder falsch zugeordnet worden waren, wieder korrekt einzuordnen – und dazu zählt auch dieses Porträt.
Berenson nahm das Porträt des Bindo Altoviti in seinen wichtigsten Werkverzeichnissen italienischer Gemälde (1907, 1932, 1968) auf und trug damit maßgeblich zur Wiederanerkennung der Autorschaft Raffaels bei.
Allerdings gab es auch namhafte Stimmen, die einen Werkstattanteil vermuteten: So schlug etwa der Kunsthistoriker Ernst Hartt 1958 vor, dass Teile des Gemäldes – etwa der Mantel – von Giulio Romano, einem Schüler Raffaels, stammen könnten.
Heute sind sich die meisten Fachleute einig, dass es sich um ein autographes Werk Raffaels handelt, wenngleich einzelne Partien – insbesondere weniger zentrale Elemente – von Werkstattmitarbeitern ausgeführt worden sein könnten. Entscheidend ist jedoch, dass Raffael selbst die Komposition entwarf, beaufsichtigte und vollendete, und dem Werk damit seinen unverwechselbaren stilistischen Stempel aufdrückte.
Im Laufe des 20. und 21. Jahrhunderts wurde das Porträt des Bindo Altoviti in bedeutenden Ausstellungen gezeigt, was seinen Ruhm erheblich steigerte. 1983 war es Teil der Ausstellung Raphael and America in Washington; 2003–2004 stand es im Mittelpunkt der Ausstellung Raphael, Cellini & a Renaissance Banker: The Patronage of Bindo Altoviti, die zwischen dem Isabella Stewart Gardner Museum in Boston und dem Museo del Bargello in Florenz stattfand. Erstmals wurde dabei dieser Mäzen durch die ihm gewidmeten Meisterwerke gewürdigt – darunter Raffaels Gemälde und die Bronzebüste Bindos, die um 1550 von Benvenuto Cellini geschaffen wurde.
Anschließend reiste das Werk weiter nach Madrid und Paris für die Ausstellung Late Raphael (Prado und Louvre, 2012–2013), nach Wien für Raffaello in der Albertina (2017) und zuletzt nach London, wo es 2022 in der großen Retrospektive Raphael der National Gallery präsentiert wurde – organisiert zum Gedenken an den 500. Todestag des Künstlers.
Jede dieser Ausstellungen bestätigte den Eindruck, den bereits Bernard Berenson vom Porträt hatte: Es handelt sich um ein einzigartiges Werk, in dem Raffael eine psychologische Feinfühligkeit und formale Schönheit erreicht, die kaum ihresgleichen finden.
Moderne Kunstkritiker haben dem Porträt zahlreiche lobende Worte gewidmet – sei es für seine zarte Introspektion, sei es für seine innovative Kühnheit. Zwar wurde Raffael gelegentlich wegen seiner formalen Perfektion kritisiert – „ein Großteil des 20. Jahrhunderts über blieb der Geschmack für Raffael auf ‘Liebhaber von süßlichem Kitsch und schamlosem Camp’ beschränkt“, schrieb der britische Kunstkritiker Waldemar Januszczak provokativ –, doch Werke wie das Bindo-Altoviti-Porträt widerlegen dieses Klischee eindrucksvoll. Sie zeigen einen Künstler, der auch feine Unruhe und Sinnlichkeit darstellen konnte.
Der Kunsthistoriker John Pope-Hennessy lobte die persönliche Tiefe der von Benvenuto Cellini geschaffenen Büste Bindos – eine Qualität, die zweifellos schon aus dem Gemälde Raffaels spricht. In beiden Porträts Altovitis, dem gemalten wie dem skulpturalen, offenbaren sich ein ungewöhnlicher Ernst und eine psychologische Individualität, die für die Zeit bemerkenswert sind.
Letztlich erkennt die heutige Kunstkritik im Porträt des Bindo Altoviti nicht nur einen Höhepunkt von Raffaels Porträtkunst, sondern auch ein menschliches Dokument von außergewöhnlicher Ausdruckskraft – ein Werk, das den idealen Schönheitsbegriff der Renaissance mit der emotionalen Wirklichkeit eines echten Menschen in Dialog treten lässt.
Schlussfolgerung: Bindos unveränderlicher Blick
Dem heutigen Betrachter bietet das Porträt des Bindo Altoviti ein ästhetisches und emotionales Erlebnis, das die Zeiten überdauert. Angesichts dieses Gemäldes scheinen wir in einen Blickwechsel mit einem jungen Mann verwickelt zu sein, der vor fünf Jahrhunderten lebte: Bindo schaut über seine Schulter zu uns zurück – mit hellen Augen, leicht verschleiert von einem nachdenklichen Schatten, die Lippen leicht geöffnet, als wolle er zu uns sprechen. In diesem Antlitz, das zwischen Idealisierung und Realität schwebt, erkennen wir Raffaels Handschrift darin, das flüchtige Wesen eines Charakters einzufangen.
Die renaissancezeitliche Sprezzatura, jenes natürliche, mühelose Maß an Eleganz, das Baldassare Castiglione beschrieb, durchdringt das Bild: Bindo wirkt zugleich schlicht und aristokratisch, vertraut und ikonisch. Das warme Licht, das seine Haut berührt, scheint noch immer lebendig – als hätte der Lauf der Zeit es nie verdunkelt.
Abschließend lässt sich sagen, dass Raffael mit diesem Porträt das höchste Ziel der Kunst erreicht hat: einen Augenblick und einen Menschen unsterblich zu machen. Der junge Bankier der Renaissance wird uns in seiner ganzen Menschlichkeit zurückgegeben – und in seinem Abbild erahnen wir auch einen Widerschein von Raffael selbst. Nicht durch eine fantasievolle Verwechslung der Identität, sondern weil der Künstler seine ganze Weltanschauung in das Gemälde eingeflochten hat: Harmonie, Schönheit und psychologische Tiefe.
Heute „lebt“ Bindo Altoviti weiter – vor den Augen der Besucher der National Gallery of Art in Washington – und sein Blick stellt uns bis heute stumm zur Rede. Kritiker und Kunsthistoriker mögen weiterhin über Zuschreibungen und stilistische Einflüsse debattieren, doch vor diesem Bild überwiegt das Gefühl, einem echten Menschen gegenüberzustehen.
Wie Vasari schon im 16. Jahrhundert schrieb, galt das Porträt als „stupendissimo“, also von bewundernswerter Schönheit – und das mit Recht: Denn noch heute staunen wir und lassen uns verzaubern – ein greifbares Zeugnis dafür, wie Raffaels Kunst das Herz des Menschen über Jahrhunderte hinweg zu berühren vermag.
Quellen:
Vasari, Le Vite – it.wikisource.org
D. A. Brown & J. Van Nimmen, Raphael & the Beautiful Banker
National Gallery of Art, Washington – nga.gov
Waldemar Januszczak, The Sunday Times – waldemar.tv
Vicino Project (Raphael) – vicinoproject.com
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